Montag, 15. Juni 2015

LILJA 4-EVER



Die Geschichte ist universell und sie geschieht tagtäglich fast überall hier im westlichen Europa: Mädchen aus der ehemaligen Sowjetunion werden über die Grenze gebracht und mit brutaler Gewalt gezwungen, anschaffen zu gehen. Man liest die Schlagzeilen, aber sieht und hört nicht die Menschen, die dahinter stehen. Mit Lukas Moodyssons Film haben sie ein Gesicht.

Alles ist schrecklich in "Lilja-4-ever", alles ist Leiden. Dieser Film ist nur für Hartgesottene, denn mit Spielfilm im klassischen Sinne von ‚Unterhaltung' hat er nichts mehr zu tun. Mit der unvermittelten, hautnahen Sichtweise einer Dokumentation erzählt Moodyssons Film von einer Spirale in den Abgrund, einen Abstieg in die Verdammnis. Jedes Mal geht es für die Titelheldin noch ein bisschen tiefer ins Verderben, fällt sie noch ein bisschen härter.

"Lilja-4-ever" ist auch und vor allem ein Film über Verrat und enttäuschtes Vertrauen, denn Lilja stürzt nicht eigenhändig ab, sondern bekommt auf jeder Stufe einen neuen Stoß. Der einzige, der Lilja nicht in der einen oder anderen Art missbraucht ist Volodnya, der ebenfalls von der Familie verstoßene Nachbarsjunge. Zusammen versuchen die beiden ihr Bestes, um in Dreck und Armut nicht unterzugehen.

Man windet sich als Zuschauer im Sessel, man betet förmlich für ein bisschen Hoffnung, meinetwegen auch ein bisschen verklärenden Kitsch. Diesen Gefallen tut einem der Film nicht. Er geht seinen Weg konsequent zu Ende. Man will heulen. Als Lilja von ihrer rosigen Zukunft in Schweden träumt, möchte man so sehr, dass dies der Beginn eines besseren Lebens ist, und weiß doch genau, dass es nur noch tiefer in den Abgrund gehen wird. Allerdings - und das ist wiederum eine der großen Leistungen des Films - es wird einem klar, warum sie darauf eingeht, warum sie Volodniyas Warnungen in den Wind schlägt, warum der Einwand, dass es im Winter in Schweden gar kein Gemüse gibt, zur Seite gewischt wird. Eine Binsenweisheit eigentlich, aber wahr und wahrhaftig: Lilja mag alles verloren haben und nichts mehr besitzen, aber sie braucht ihre Träume. Denn ohne ihre Träume hat sie gar nichts. Dies ist auch die Relevanz des kitschigen Mariengemäldes, das Lilja als einziges persönlich kostbares Eigentum mit sich herumschleppt: Es erinnert sie an ihre Träume und Hoffnungen auf ein besseres Leben. Als sie es verzweifelt zerschlägt, ist alles vorbei. Moodysson ist auch hier unerbittlich: Er zeigt uns als einzigen Ausweg den Traum, die Illusion, das Was-wäre-wenn, aber es ist kein Ausweg. Engel mit Pappmaché-Flügeln, Basketball, verwischtes Lachen, soweit nur reicht der Traum. Und ist doch kein Trost.

Und wieso rechtfertigt dieser Film eine Höchstnote? Weil er wirkt. Und nachwirkt. Weil sich ganze Sequenzen in die Netzhaut der Zuschauer brennen. Weil man ihn nie wieder vergisst. Als Nietzsche sagte "Wenn Du lang genug in den Abgrund hineinschaust, schaut der Abgrund in Dich hinein", muss er so etwas gemeint haben. Moodysson zwingt seine Zuschauer, in den Abgrund zu starren und dieser starrt einem bitter ins Gesicht, ohne zu zwinkern, ohne dem Blick auszuweichen. Ein erschütterndes, bedrohlich schleichendes Monster von einem Film.

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